Wie du auf positive Weise mit deinen inneren Grenzen umgehst

Das Ausloten der eigenen Grenzen ist ein wichtiger Schritt zu Selbstbehauptung und persönlicher Freiheit. Wo liegen sie, wann schützen sie mich und wann kann ich sie erweitern? Dieser Beitrag gibt hilfreiche Tipps.

Wie du auf positive Weise mit deinen inneren Grenzen umgehst
© Jaelynn Castillo., unsplash.com

Vielen Menschen fällt es schwer, eine klare Grenze zu ziehen, wenn es ihnen zu viel wird, sie keine Kraft, Zeit oder einfach keine Lust dazu haben. Dabei sind persönliche Grenzen wichtig, um die eigenen Bedürfnisse zu achten, der Selbstausbeutung vorzubeugen und die innere Balance aufrechtzuerhalten. Wie du deine inneren Grenzen mehr als Maßstab anstatt als Gefängnis behandeln kannst, zeigt dieser Beitrag.

Wann wurdest du das letzte Mal an deine Grenze gebracht?

Fällt es dir schwer, einem Freund abzusagen, der dich bittet, ihm beim Umzug zu helfen, obwohl er genau weiß, dass dein Bandscheibenvorfall dich immer noch quält? Aber schließlich hat er dir damals bei deinem Umzug ja auch geholfen. Da kannst du seine Bitte schlecht ablehnen. Oder doch? Oder fällt es dir schwer, dich unter vielen Leuten durchzusetzen, weil du nicht zu forsch wirken willst? Oder erwischst du dich, in dieser Woche schon wieder zu viel genascht zu haben, obwohl du doch eigentlich längst deine Diät beginnen wolltest?

Wir alle kommen immer wieder an unsere inneren Grenzen. Wir überschreiten sie oder andere tun das, auch wenn wir das nicht wollen. Oder wir bleiben dahinter, obwohl wir wissen, dass es uns eigentlich guttun würde, uns einmal darüber hinaus zu wagen. Einen positiven und ausgewogenen Umgang mit den inneren Grenzen zu erlangen, ist nicht leicht. Und die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – zu immer mehr sozialer und körperlicher Distanz und gleichzeitig ständig für den Beruf verfügbar zu sein – machen die Aufgabe noch schwieriger.

Wie kannst du herausfinden, wo deine innere Grenze liegt? Ab wann vernachlässigst du deine eigenen Bedürfnisse und tust dir selbst keinen Gefallen mehr? Wann ist deine persönliche Grenze erreicht, an der du Gefahr läufst, in der Selbstausbeutung zu landen? Und wann täte es dir gut, deine inneren Grenzen zu erweitern?

Die unterschiedlichen Funktionen von Grenzen

Es wird oft zwischen guten und schlechten Grenzen unterschieden. Gute Grenzen erleichtern das Leben. So ist beispielsweise eine Grenze zum Nachbarn sicher gewollt und gut, während eine Mauer zwischen zwei Ländern für viele Bewohner:innen schlecht sein könnte. Eine Grenze wird dann zu einer schlechten, wenn sie die freie Entfaltungsmöglichkeit stärker behindert, als es notwendig und sinnvoll ist. Doch Grenzen können ganz unterschiedliche Funktionen haben:

  • Grenzen können unveränderbar sein, wenn es um physikalische Gesetze geht wie die Schwerkraft auf der Erde.
  • Grenzen erzeugen und ermöglichen Identität. Erst ein Aufteilen unserer Welt innerhalb gesetzter Grenzen ermöglicht überhaupt ein friedliches Zusammenleben von Stämmen, Völkern und Nationen. In diesem festgesetzten und geschützten Gebiet kann ein Raum für die Entwicklung von Kultur, Normen und Zugehörigkeit entstehen.
  • Grenzen schützen uns. Schon die eigene Haut grenzt unseren Körper gegen die Umwelt ab. Unser Immunsystem sorgt dafür, dass Wunden schnell geschlossen werden. Hauswände schützen uns vor Einbrechern und Kälte. Persönliche Grenzen schützen uns vor Enttäuschung und Vertrauensmissbrauch.
  • Grenzen ermöglichen aber auch Begegnung und Verbindung. Wer einem anderen Menschen begegnen will, braucht stabile Grenzen. Braucht ein Gefühl der eigenen Identität. Damit Grenzen sich in der Begegnung auflösen können, muss erst einmal eine Grenze da sein. Zwei Nebelfelder können sich nicht begegnen. Sie können im besten Fall aufeinander zuwabern, aber ein wirklicher Kontakt ist schwer beobachtbar. Und an der Grenze kann auch intensiver Kontakt entstehen. Bewaffnete Grenzkonflikte zwischen Ländern wie auch die Annäherung in der Liebe zeigen das.
  • Grenzen erschaffen Wirklichkeit. Unser Leben wird erst möglich durch die Existenz des Todes. Weil wir wissen, dass wir sterben werden, wird das Leben kostbar. Glück wird erfahrbar, weil wir Unglück kennen. Weil etwas aufhört, gibt es überhaupt einen Anfang.

In der Kindheit lernen wir, Grenzen auszuloten und zu akzeptieren

Mit der Geburt überschreiten wir das erste Mal im Leben eine Grenze. Nach neun Monaten im geschützten Mutterleib machen wir uns auf den Weg, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Individuum zu werden. Kinder testen ihre Grenzen zum ersten Mal in der Trotzphase aus. Sie beginnen, Aufgaben und Regeln zu hinterfragen und weigern sich, bestimmte Dinge zu machen, die ihre Eltern oder enge Bezugspersonen von ihnen fordern. Bis ins Jugendalter dauert dieser wichtige Ablösungsprozess an, der Normen, Wertvorstellungen, Wünsche, Gebote und Verbote der Eltern infrage stellt und die eigene Autonomie und Selbstwirksamkeit fördert. Ein ambivalenter Prozess, denn der befriedigende Gewinn von Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit wird auf der anderen Seite begleitet von Ungewissheiten, Konflikten und Verlustängsten.

Indem Eltern Grenzen setzen, erfahren die Kinder, was von ihnen erwartet wird und erlangen Orientierung und Sicherheit. Doch genauso wichtig für die Entwicklung einer stabilen, reifen Persönlichkeit sind Freiräume. Ein Kind muss soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen lernen genauso wie seine eigenen Fähigkeiten erproben, es muss lernen, sich abzugrenzen, aber sich auch in soziale Beziehungen integrieren. Ohne genug Freiräume ist das nicht möglich. Wenn Eltern zu viele Verbote aussprechen, das Kind kaum etwas darf, kann es sich nicht angenommen fühlen – das Selbstwertgefühl und die Selbstwahrnehmung leiden und das vermehrt seine Ängste. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Kinder sehr strenger Eltern häufiger Angststörungen, wie Trennungs- oder soziale Angst entwickeln.

Keine einfache Aufgabe für Eltern, denn sie müssen dem Kind oder Jugendlichen natürlich weiter bestimmte Grenzen setzen, aber zugleich auch sein Autonomiestreben fördern und tolerante Interaktionspartner:innen sein. Nur wenn das Kind weiß, dass es so, wie es ist, gut ist, auch wenn es auf dem Weg zur Autonomie elterliche Grenzen sprengt, und dennoch geliebt wird, kann es eine gesunde emotionale Entwicklung nehmen und als Erwachsener eigene Grenzen ziehen – ohne Schuldgefühle oder Verlustängste. Doch die andere Seite der Medaille ist, auch die Grenzen anderer anzuerkennen und einzuhalten. Ohne die Fähigkeit zu Kompromissbereitschaft, Rücksichtnahme und Respekt bleibt die soziale Kompetenz zurück und ein egoistischer Erwachsener macht seiner Umwelt das Leben schwer.

Die richtige Balance zwischen der Förderung des Autonomiestrebens und dem Ziehen von Grenzen ist also ausschlaggebend für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit.

Welche Folgen hat zu wenig Abgrenzung?

Wer als Kind nicht gelernt hat, sich abzugrenzen, wird sich auch als erwachsener Mensch schwerer tun, sich gegen Ausnutzung, Überforderung und Anpassungsdruck zur Wehr zu setzen. Sei es im Berufsleben oder in Freundschaften und Beziehungen, die Menschen um uns merken schnell, wenn wir nicht nein sagen können – und machen sich unser Verhalten für ihre eigenen Zwecke zunutze. Bei Sätzen wie "Sie kriegen das schon hin!", "Auf Sie ist doch immer Verlass!" oder "Lass mich bitte nicht im Stich!" sollten wir hellhörig werden. Haben wir dazu überhaupt Lust? Oder Zeit? Oder hatten wir ganz andere Pläne? Fühlen wir uns bedrängt und ausgenutzt? Oft sagen wir dann trotz mulmigen Gefühls doch ja und dann tappen wir in die Falle.

Wir geben unser Bestes, machen ungeliebte Überstunden, übernehmen Aufgaben, die sonst keiner machen will, und wofür? Um unangenehmen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, Konflikte zu vermeiden und die Dankbarkeit und Anerkennung unseres Gegenübers zu erlangen. Das mag kurzfristig befriedigend sein, langfristig sind solche Grenzverletzungen aber nicht gut für uns. Denn auf Dauer können durch permanente Grenzüberschreitungen anderer und einer zu geringen Selbstfürsorge sogar psychische Probleme und Störungen entstehen. Ängste, Süchte, Depressionen, Burnout und krankhafter Stress gelten als typische Ausprägungen, wenn emotionale Grenzen gestört und nicht im Gleichgewicht sind.

Wenn Überforderung und das Gefühl, ausgenutzt zu werden, überhandnehmen, gibt es letztendlich zwei Wege, mit der Situation umzugehen. Einerseits der komplette Rückzug und die selbst herbeigeführte Isolation, die einen zwar vor Verletzungen schützt, aber auch ein Weg in die Einsamkeit ist. Andererseits die permanente Unterdrückung von Wut und Ärger, ein „In sich Hineinfressen“ der unguten Gefühlen, das sich dann oft in unkontrollierten Explosionen entlädt, die mehr schaden als bereinigen.

Grenzen zu ziehen, kannst du lernen – in jedem Alter

Es geht aber auch anders. Auch wenn wir keine optimalen Voraussetzungen in der Kindheit entwickelt haben, können wir in jeder Phase unseres Lebens lernen, unsere Grenzen zu erkennen und zu setzen. Und das ist weder egoistisch noch asozial, sondern wichtig für unser Wohlbefinden und unsere sozialen Kontakte. Denn wir können nur echte Hilfe leisten und auf die Sorgen und Probleme anderer Menschen eingehen, wenn wir selbst psychisch stabil, bei uns sind und genau wissen, wo unsere Grenzen liegen. Wenn wir uns nicht abgrenzen können, uns die innere Distanz fehlt, lassen wir uns zu sehr in den Problemstrudel der anderen ziehen und sind keine guten Helfer:innen mehr. Wie Rettungsschwimmer:innen, die immer wieder üben, Klammergriffe der Ertrinkenden zu vermeiden, um nicht selbst unter die Wasseroberfläche gezogen zu werden.

4 hilfreiche Tipps, um seine eigenen Grenzen zu setzen

Tipp 1:Höre in dich hinein und mach dir deine Bedürfnisse bewusst

Spüre in dein Innerstes hinein und versuche im ersten Schritt, deine Bedürfnisse zu erkennen. Das ist nicht immer so einfach. Stell dir Fragen, um deine Grenzen auszuloten: Was tut mir jetzt gut? Bin ich wirklich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen? Überfordert sie mich? Stresst mich schon der Gedanke daran? Wann wird es mir zu viel? Möchte ich nur jemandem einen Gefallen tun? Habe ich Angst, die Zuneigung, Liebe, Anerkennung des anderen zu verlieren? Was treibt mich an, meine Grenzen zu überschreiten?

Tipp 2:Übe, deine Grenzen zu verschieben und zu überschreiten

Es gibt auch Situationen, in denen wir unsere Grenzen zu eng stecken und uns so die Möglichkeit verbauen, etwas anders und neu zu machen. Wir sind festgefahren in unseren gewohnten Handlungsweisen und wagen nicht den Blick über den inneren Grenzzaun hinaus. Es lohnt sich aber, ab und an die Komfortzone zu verlassen, denn nur so können wir wachsen und uns weiterentwickeln. Sei mutig und versuche einmal Dinge zu tun, die dir eigentlich unangenehm sind oder sogar leichte Angst verursachen, sprich z.B. einen fremden Menschen an und frag, woher er das schicke Fahrrad hat, oder steige auf den Fünf-Meter-Turm im Freibad und schau einfach mal in die Tiefe, ohne gleich springen zu müssen. Du wirst sehen, dass dir diese kleinen "Mutproben" viel Befriedigung und Stärke schenken.

Werde dir bewusst, dass nur du die Wächterin oder der Wächter über deine Grenzen bist. Du sitzt am Hebel des Schlagbaums und es liegt in jedem Moment in deiner Verantwortung, deine Grenzen zu schließen oder zu öffnen, zu verschieben und zu erweitern.

Tipp 3:Stärke dein Selbstwertgefühl

Je mehr du dein Selbstwertgefühl aufbaust, desto weniger abhängig wirst du von der Anerkennung anderer. Und wenn du weniger auf die Meinung und das Lob von außen angewiesen bist, fällt es dir auch leichter, nein zu sagen und deine Grenzen zu setzen. Ein starkes Selbstwertgefühl schützt also deine Grenzen, gibt dir zugleich aber auch die Freiheit, deine Grenzen zu verändern und anzupassen, wenn es nötig ist.

Tipp 4:Versuche deine innere Balance zu finden

Mache dir deine unterschiedlichen Bedürfnisse bewusst und erkenne sie an: In einigen Bereichen bist du mutig, ja vielleicht sogar übermütig, in anderen wird dir alles schnell zu viel. Vielleicht fällt es dir leicht, einen Vortrag vor vielen Menschen zu halten, aber du beißt dir lieber auf die Zunge, als deiner Kollegin endlich mal zu sagen, dass sie einen guten Job macht. Beides ist okay, denn es sind die unterschiedlichen Anteile deiner Persönlichkeit und geben nur den Verlauf deiner inneren Grenzen an. Sie machen dich aus. Kein Mensch ist übrigens nur mutig, kein Mensch nur verschlossen. Die beiden Pole aus Selbstbehauptung, Selbstschutz und Achtung der eigenen Bedürfnisse einerseits und dem Bedürfnis nach Freiheit und Entdecken, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe andererseits gehören zu jedem von uns.

Entscheidend ist, dass du selbst die Balance beider Seiten bestimmen kannst. Du kannst dein Verhalten entsprechend anpassen, wenn eine Seite aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Dafür bist nur du verantwortlich.

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Monika Tschan schreibt am 05.09.2021

Ich freue mich über eure guten und ab und zu für mich neuen Blickwinkel immer wieder und versuche sie anzunehmen und auszuleben. Herzlichen Dank.


Rahel schreibt am 12.07.2021

JAAA! Dieser Artikel ist sowohl für mich als meine Nichte supperhilfreich UND entlastend. Gibt's den auch auf Papier in einem eurer Bücher? DAAS Thema für uns . DANKESCHÖN!!!!!!


Karoline schreibt am 11.07.2021

Ihr Beitrag war sehr hilfreich und hat sehr viele Denkanstöße und einen anderen Blickwinkel ermöglicht. Da ich selbst nur sehr schwer Grenzen setze fand ich ich Ihren Beitrag sehr hilfreich, vielen lieben Dank und weiterhin alles Gute


Alexia schreibt am 11.07.2021

Dieser Beitrag ist echt toll und hat mir viel geholfen. Es gibt immer wieder Menschen, die sich in mein Leben einmischen und übergriffig werden. Ich lerne gerade nein zu sagen und meine persönlichen Grenzen zu setzen und es tut mir sehr gut. Vielen Dank für diesen Beitrag.


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 Wann wurdest du das letzte Mal an deine Grenze gebracht?
 Die unterschiedlichen Funktionen von Grenzen
 In der Kindheit lernen wir, Grenzen auszuloten und zu akzeptieren
 Welche Folgen hat zu wenig Abgrenzung?
 Grenzen zu ziehen, kannst du lernen – in jedem Alter
 4 hilfreiche Tipps, um seine eigenen Grenzen zu setzen
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